Quelle: Gettyimages.ru 8. November 2023, Tokio, Japan: Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Auswärtige Angelegenheiten, und die Außenminister der G7, James Cleverly, Annalena Baerbock, Antony J. Blinken, Yōko Kamikawa, Mélanie Joly, Catherine Colonna und Antonio Tajani.
Von Fjodor Lukjanow
Das zu Ende gehende Jahr begann mit einer heftigen militärischen Konfrontation von globaler Bedeutung und endet mit zwei weiteren. Und es gibt keine Garantie dafür, dass diese Konflikte nicht bis Ende 2024 andauern werden. Die Kette der Konflikte, scheinbar territorial, aber im Wesentlichen existenziell – zumindest in der Wahrnehmung der Beteiligten –, könnte sich als ziemlich lang erweisen.
Im 20. Jahrhundert – mit seinen Kriegen, Revolutionen, dem Kolonialismus und den nationalen Befreiungen – wurde die Welt auf bizarre und unlogische Weise zerschnitten. Die militärisch-ideologische Konfrontation der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde nach und nach in einen globalen Rahmen gefasst. Damit hätten theoretisch alle Konflikte gelöst werden müssen. Wurden sie aber nicht. Im Gegenteil: Sobald die Fundamente zu wackeln begannen, brachen die Konflikte mit neuer Kraft wieder aus.
Analyse
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Die derzeitige Ausbreitung von Konflikten ist ein Symptom für die Schwächung des modernen internationalen Machtgefüges. Dieses stützte sich auf eine «liberalen Weltordnung» – in jüngerer Zeit auch «regelbasierte Ordnung» genannt. Die Grundlage dafür war das Vertrauen einer Gruppe von Ländern in ihre Rechtschaffenheit und die Wahrheit ihrer Ideologie, die sie durch den «Sieg» im Kalten Krieg gewonnen hatten. Die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft besiegten das Sowjetregime und seine Planwirtschaft. Doch bald entpuppte sich die Demokratie als Macht der Mehrheit, unter Berücksichtigung der Meinung der Minderheit, in ein liberales System, in dem den Minderheiten mehr moralische und politische Rechte eingeräumt werden als der Mehrheit.
Ein typisches Beispiel: In fast allen Ländern der G7 sind die Umfragewerte der Regierungsparteien und -koalitionen mittlerweile extrem niedrig. Das heißt, die Regierungen der G7 vertreten die Interessen eines kleineren Teils ihrer Bevölkerung. Alternative Kräfte, die aktuelle Regierungen herausfordern, werden als populistisch bezeichnet. Dieser Begriff – der übrigens vom Wort populus, das Volk, kommt –, ist mittlerweile zu einem Schimpfwort geworden, während der Mainstream angewiesen wird, diejenigen zu bekämpfen, die von diesem Bannstrahl getroffen werden. Die Idee dahinter ist, dass das Gefüge der heutigen Eliten nicht verändert werden soll.
Infolgedessen stellt das Establishment mittlerweile fast jede Abstimmung als einen Kampf um die Demokratie dar. Die Implikation ist, dass Demokratie der Sieg der Kräfte ist, mit der die «richtige» Kontinuität aufrechterhalten wird. Dementsprechend werden diejenigen, die einen Kurswechsel wollen, zu Feinden der Demokratie erklärt, auch wenn sie eine Mehrheit auf ihrer Seite haben.
Zur Abgrenzung zwischen den Prozessen in einzelnen Ländern und auf globaler Ebene passt der Begriff der «Weltmehrheit» – das heißt, die Länder außerhalb der westlichen Gemeinschaft –, der im Laufe des zu Ende gehenden Jahres Eingang in das politische Lexikon Russlands gefunden hat. Der Westen spielt dabei die Rolle des globalen Establishments. Es gibt keine einzige «populistische» Kraft, die sich dagegenstellt. Aber es gibt einen großen Raum – die «Weltmehrheit» –, der glaubt, dass die Minderheit – der Westen – ihre Macht missbraucht. Es entsteht keine starre Opposition, sondern ein zunehmender Widerstand, der die Wirksamkeit der Politik der USA und ihrer Verbündeten eingrenzt. Innerhalb der westlichen Gemeinschaft selbst sehen wir eine zunehmende Forderung von «Populisten», sich weniger in das Weltgeschehen einzumischen, weil die Kosten dafür den Nutzen überwiegen. Dies hat keine direkte und unmittelbare Wirkung, sondern eine nachhaltige, indirekte Wirkung. Aber da die Geschichte immer schneller voranschreitet, verändert sich auch die Bedeutung von «dauerhaft».
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Das Jahr 2022 war ein Wendepunkt, denn zum ersten Mal wurde die herrschende Minderheit direkt herausgefordert. Natürlich durch die Mehrheit, denn Russland befand sich in einer Art «weder hier noch dort»-Position. Aber in diesem Jahr wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Dieses Jahr war eine Zeit der Erkenntnis, dass sich die bisherigen Einschränkungen, also die «Regeln», auf denen die bisherige Ordnung basierte, auflösen und sich der Raum der Möglichkeiten für alle erweitert.
Das Jahr 2024 wird «das Jahr der großen Entscheidungen» sein. Im wahrsten Sinne des Wortes wird die Mehrheit der Welt zur Wahl gehen. Man zähle einfach die Bevölkerungen Indiens, der USA, Pakistans, Bangladeschs, Südafrikas, Indonesiens, Russlands, Ägyptens und der Europäischen Union zusammen. In den führenden Ländern des Westens wird ein ernsthafter Kampf zwischen den Populisten und dem Establishment ausgetragen, wobei der Hauptschauplatz natürlich die USA selbst sein werden.
Im kommenden Jahr könnte die Weltmehrheit eine gemeinsame Basis finden und der weiteren Transformation des globalen Raums einen starken Impuls verleihen.
Aus dem Englischen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor am Internationalen Diskussionsklub Waldai.
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